Gunther Krichbaum - Bundestagsabgeordneter

30. Jahrestag des Genozids von Srebrenica

Versöhnung wagen – Europas Friedensauftrag bewahren

von Gunther Krichbaum und Benjamin Haddad, Staatsminister für Europa von Deutschland und Frankreich:

Versöhnung wagen - Europas Friedensmission bewahren

Vor dreißig Jahren, im Juli 1995, wurde in der bosnischen Enklave Srebrenica das bis dahin schlimmste Verbrechen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg verübt. Es war der grauenvolle Tiefpunkt eines damals seit fast drei Jahren andauernden Kriegs mitten in Europa. Nationalistische Rhetorik eskalierte zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bis hin zum Fall der VN- Schutzzone. Massenvertreibungen, Plünderungen, Folter und ethnische Säuberungen führten zum Tod von mehr als 8.000 Jungen und Männern, unzählige Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt. Diese Tage haben sich in das Gedächtnis Europas eingebrannt.

Unser Mitgefühl gilt den Opfern, ihren Familien und den Überlebenden. Wir trauern mit ihnen – heute, an jedem 11. Juli und an jedem anderen Tag, an dem sie mit dem Schmerz leben.

Der Jahrestag ruft zur Erinnerung auf, er mahnt uns auch zu stetiger Wachsamkeit.

Denn Srebrenica steht auch für das Unvermögen der internationalen Gemeinschaft rechtzeitig die Spirale der Eskalation zu durchbrechen. Das Gedenken fordert uns zur aktiven Auseinandersetzung mit der Verantwortung heraus, die sich für Europa aus den damaligen Geschehnissen ergibt. Und uns auch in Zukunft in die Pflicht nimmt.

Srebrenica war ein Genozid. So hat es der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien unmissverständlich festgestellt. In diesem Verständnis hat die VN-Generalversammlung im vergangenen Mai mit großer Mehrheit den 11. Juli zum internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica erklärt. Ein starkes Zeichen – gegen das Vergessen, gegen die Leugnung historischer und rechtlicher Wahrheit, als Mahnung stets wachsam zu sein und aktiv hinzuschauen. 

Die Resolution stellt Weichen für die Zukunft, denn es geht nicht darum sich in Anschuldigungen zu verlieren. Sie ist auch keine Anklage gegen Bestimmte. Sie ist die Aufforderung sich den Lehren aus der Vergangenheit schonungslos zu stellen und Politik für die Zukunft zu gestalten. Sie fordert dazu auf eine gemeinsame Sprache für das Leid zu finden.

Ohne Wahrheit keine Versöhnung – ohne Versöhnung kein dauerhafter Frieden.

Deutschland und Frankreich hat über Jahrhunderte hinweg eine tiefgehende Gegnerschaft verbunden, die ihre traurigen Höhepunkte in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hatte. Diese Gegnerschaft war so tief verwurzelt, dass es dafür in der deutschen Sprache sogar ein eigenes Wort gab: „Erbfeindschaft“. Es stand für das Vererben der Feindschaft zu Frankreich an die Nachkommen. An eine Aussöhnung war also nicht zu denken.

Erst die Katastrophe des 2. Weltkrieges hat dazu geführt, dass ein Durchbruch der Spirale aus Hass und Gewalt gelingen konnte.  Dafür brauchte es vor allem mutige Politiker wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und visionäre Ideen wie von Robert Schumann. Sie waren bereit, ein großes Risiko einzugehen, zu vertrauen und in Zusammenarbeit zu investieren – entgegen aller Widerstände.

Es war vor allem die junge Generation, die erkannte, dass nur dann eine gemeinsame Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand gestaltet werden kann, wenn diese Gegnerschaft beendet und in zukunftsgerichtete Zusammenarbeit investiert wird. Bis heute sind die unzähligen lokalen Initiativen, Städtepartnerschaften und Schüleraustausche der Wesenskern unserer Freundschaft. Die Erinnerung an die Vergangenheit wurde dabei nicht verdrängt, sondern bewusst und gemeinsam gestaltet. Dieser Prozess brauchte Zeit und Geduld. Aber er war erfolgreich, denn ohne die deutsch-französische Aussöhnung wäre die europäische Einigung undenkbar gewesen.

Geschichte wiederholt sich nicht und historische Ereignisse sind nur sehr begrenzt vergleichbar. Wir sind jedoch überzeugt: Versöhnung und Vertrauen sind das emotionale Fundament auf dem eine friedliche Zukunft aufgebaut wird. Das erfordert auf allen Seiten Kompromissbereitschaft. Versöhnung ist dabei die wesentliche Grundlage für eine Zukunft in Würde und Frieden.

Vor allem in einer Zeit, in der sich die Positionen in Bosnien und Herzegowina wieder verhärten, müssen wir die Instrumentalisierung von Identitäten als Mittel zur Spaltung und Ausgrenzung ablehnen. Wir müssen diejenigen unterstützen, die bereit sind Brücken zu bauen und den Blick in die Zukunft richten. Sie machen uns Hoffnung. Wir rufen daher dazu auf, aus dem Scheitern von damals Lehren zu ziehen – für heute - für morgen.

Dies kann in Bosnien und Herzegowina gelingen. Unsere beiden Länder werden weiterhin jede Unterstützung leisten, die auch dazu beitragen ethnische Spaltungen zu überwinden, wie durch gemeinsame Treffen und Initiativen für die Jugend in Bosnien und Herzegowina und in der Westbalkanregion. Das Gleiche erwarten wir von den Verantwortlichen vor Ort. Demokratische Strukturen, Rechtsstaatlichkeit, aber auch die Förderung gemeinsamer Bildung und Erinnerungskultur sind zentrale Pfeiler für diesen gemeinsamen Weg.  Dies wird auch den Weg in die Europäische Union ebenen.

Die Europäische Union ist unsere Antwort auf die Verbrechen der Vergangenheit – auf Krieg, Hass und Spaltung. Aus Feinden wurden Partner, aus Trümmern wuchs Vertrauen. In Zeiten, in denen der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt und Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, braucht es Mut, Weitsicht und Führungsstärke um diesen Frieden zu verteidigen und täglich neu zu gestalten.

Dies gilt auch für den Westlichen Balkan einschließlich Bosnien und Herzegowina, denn Bosnien und Herzegowina hat eine klare europäische Perspektive. Es ist ein Auftrag an alle: für Reformen, Dialog und Versöhnung.

Deutschland und Frankreich werden diese europäische Zukunft weiter konstruktiv begleiten. Wir sind der festen Überzeugung, dass es keine andere Alternative zum europäischen Einigungsprozess gibt, in dessen Mittelpunkt Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle stehen.

Der internationale Gedenktag an den Völkermord in Srebrenica verpflichtet uns! Nicht nur zum Gedenken, sondern zum Handeln. Nicht nur zur Trauer, sondern zur Erneuerung unserer gemeinsamen Verantwortung und sich mit den notwendigen Mitteln auszustatten um als Europäer dieser Verantwortung gerecht zu werden.